Richards Tinnitus - Zum 72. Geburtstag von Wolfgang Domhardt (1951-2019)

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Zwölf Jahre hat Wolfgang Domhardt die Idee seines Romans „Richards Tinnitus. Aus dem Leben einer Nachkriegsgeburt“ mit sich herumgetragen, ehe das Manuskript druckreif war. Der in Staßfurt geborene frühere Ingenieur im Magdeburger Armaturenwerk war von 1990 bis 2002 Abgeordneter des Landtags von Sachsen-Anhalt. Etliche Jahre war er Vorsitzender im Vorstand des Literaturhaus Magdeburg e.V. und leitete in dieser Funktion die Geschicke des Hauses.

Lange Zeit war Wolfgang Domhardt im Alltag der DDR unzufrieden, ohne die Ursache zu kennen – etwa so, als ob jemand an ständigen Ohrgeräuschen leidet, ohne zu wissen, dass es sich um eine Krankheit handelt.

Auch Richard, der autobiografisch gefärbte Protagonist des Romans, ist ein Unzufriedener, dem man beigebracht hat, keine andere Wahl zu haben, als sich anzupassen. Richard durchlebt beim Durchblättern eines kleinen Stapels Fotografien, die ihn in den verschiedenen Stationen seines Lebens zeigen, bekannte Grenzen erneut. Einige sind undurchlässig vermauert und willkürlich gezogen, andere sind selbstgewählte Grenzen, die den Kopf regieren. Aus Richard wurde ein im Rückblick typisch erscheinender DDR-Bürger: Obwohl er das System nicht mochte, richtete er sich aber trotzdem häuslich darin ein. Er lernte die Nischen auszuloten, in denen er Widerstand zeigen konnte, ohne Nachteile zu haben. Manchmal gelingt es ihm, den aufbrausenden Widerstand zu ignorieren und mal nicht. Wie seinen Tinnitus eben. Am Ende ist er weder Opfer noch Held:

Wolfgang Domhardt: Richards Tinnitus. Aus dem Leben einer Nachkriegsgeburt. Barleben bei Magdeburg 2017. Roman.

Eine Rezension von Dr. Gisela Zander

Richard leidet an Tinnitus - oder besser gesagt, erst als der Arzt ihm von der Krankheit erzählt, merkt er, dass er leidet. Diesen Zustand kann er gut mit seinem Leben und Erleben in der DDR, in der er fast 40 Jahre lebte, vergleichen. "Lange Zeit merkt man gar nicht, dass etwas nicht stimmt, weil man es nicht anders kennt. Erst wenn man gesagt bekommt, dass man krank ist, beginnt es zu stören."

Er muss und will sich beidem stellen, dem Tinnitus und seiner Vergangenheit. Aus der Erinnerung an sein Leben in der DDR wird letztlich eine Lebensbilanz, denn Richard kann die "Wende von 1989", die sein Leben und das Leben seiner Familie und Freunde entscheidend verändert hat, nicht außen vor lassen.

Wohlbehütet, aber mit allen Entbehrungen, die in der Zeit nach dem Krieg gegeben waren, wuchs Richard auf. Durch die politisch-emotionale Einstellung seiner Eltern gegen die DDR merkte er sehr früh, dass er öffentlich in der Schule und an der Universität nicht aussprechen kann, was zu Hause diskutiert wird.

Wer nachvollziehen möchte, was in der DDR gedacht wurde, wie und warum Ostdeutsche so oder so reagiert haben, welche Motive, Wünsche, Hoffnungen hinter den Wahlentscheidungen standen, findet hier Anregung zum Nachdenken und auch die eine oder andere mögliche Antwort. Wolfgang Domhardt gelingt es, ein umfassendes Bild deutsch-deutscher Befindlichkeiten bis über das erste Jahrzehnt der 2000er Jahre hinaus zu entwickeln.

Das Buch von Wolfgang Domhardt ist ein autobiografischer Roman, viele der Lebensstationen der Romanfigur Richard entsprechen den Lebensstationen des Autors.  Frei von Schuldzuweisungen und Weinerlichkeit, die sonst die Erinnerungsliteratur oftmals kennzeichnen, ist es hier gelungen, mit schriftstellerischem Gestaltungswillen einen Text von großer Authentizität zu schaffen.  


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